Die drei tiefen Wahrheiten

(The same blog entry in English.)

Der Titel mag irreführend klingen, denn es geht nicht um absolute Wahrheiten, sondern die Ebnen der Wahrheitssuche. Wir gehen durch unser ganzes Gehirn. Und alles hängt zusammen, aber alles ist auch für sich wahr. Es können nur unterschiedliche Perspektiven sein. Und unser Leben ist leichter und besser, wenn wir alle drei Sichten sehen können.

Warum sehen wir nicht die ganze Wahrheit?

Ich war die letzten Tage im echten Leben und hier auf LinkedIn viel mit Fragen zu Leadership konfrontiert. Und natürlich sind die Antworten nicht einfach oder pauschal zu geben, aber eine Sache ist mir in allen Fällen aufgefallen: Die Probleme entstehen nur, weil wir “blind” sind.

Disclaimer

Wenn ich das hier schreibe, dann nur, weil ich auch in jeder Form blind war. Alles was ich hier beschreibe, kenne ich von beiden Seiten. Und niemand kann was dafür, weil wir eben diese “Brille” aufgezogen bekommen haben.

Wir wussten nicht mal, dass wir eine Brille – oder eben Scheuklappen – tragen. Wir dachten alle “die Welt ist halt so”. Also kein Grund für Scham, Widerstand oder der Angst vor Gesichtsverlust. Unser Gesicht hatten wir noch nie an. Bisher haben wir eine Maske getragen. Eine Maske, die andere aufgesetzt haben und die unsere Sicht sehr einschränkt.

Es waren meine Kinder, die mir gezeigt haben, wie blind ich war. Durch sie habe ich sehen gelernt. Und dabei gemerkt, dass ein Teil von mir immer wusste, dass da direkt außerhalb meines Blickfeldes was ist. Aber im Überlebensmodus oder Autopiloten hat man dafür ja auch keinen Kopf.

Definition Blindheit und sichtbare Bereiche

Wenn ich über “blind” rede, dann klingt das hart. Und es ist bildlich gemeint, aber es ist gleichzeitig wirkliche Blindheit, weil wir Dinge nicht wahrnehmen, die direkt vor uns liegen.

Und es geht nicht darum, dass wir gar nichts sehen, sondern dass das Spektrum des “Lichts”, das wir sehen extrem eingeschränkt ist. Wir sehen etwas, aber vielleicht nur schwarz und weiß oder nur eine einzige Farbe. So kann man sich das vorstellen.

Und das kommt durch die Brille (das Weltbild), die wir tragen. Und jetzt geht es darum, mal zu schauen, was wir verpassen.

Wir nehmen ein einfaches Model, und unterteilen das “Licht” in drei Bereiche: Das eine ist die Oberfläche. Die kennen wir gut. Das ist der Neocortex. Alles was wir bewusst machen und sagen. Bei uns und anderen.

Was wir nicht sehen ist der Bereich vom Limbi und vom Gecko. Da merken wir manchmal unscharf im Augenwinkel, dass da was sein muss, aber das war es schon.

Neocortex, Limbi und Gecko sind Spitznamen von Bereichen in unserem Gehirn. Und das Modell ist natürlich extrem vereinfacht. Aber uns soll das hier reichen:

Neocortex: Unser bewusstes Denken, Abwägen, Planen und Analysieren. Das was wir und andere gut kontrollieren können. Der Teil, der wie eine Maschine funktionieren soll.

Limbi (Limbisches System): Der Bereich im Gehirn, der für die Emotionen und damit auch alle Beziehungsthemen zuständig ist. Also Vertrauen Und Begegnung finden sich dort. Genauso aber auch der Verrat.

Gecko (Stammhirn oder Reptilienhirn): Der Bereich der unser Überleben sichert. Und damit die Schaltzentrale der Angst.

Wichtig: Alles was im Neocortex ankommt, lief vorher durch Gecko und Limbi, und wurde dort gefiltert und interpretiert. Da der Neocortex “langsam” ist, bekommt er nur aufbereitete Daten. Das ist ein bisschen wie der Bildschirm von deinem Smartphone. Da kommt nur das an, was andere Teilsysteme denken, was für dich interessant ist. Und das in einer aufbereiteten Form.

Bedeutet: Gecko > Limbi >> Neocortex

Kannst du mal ein Beispiel zeigen?

Und was bedeutet das nun ganz konkret? Wie sehen wir mehr und was machen wir dann anders?

Wir nehmen jetzt eine ganze Reihe von Beispielen und schauen hin, was da passiert. Wir beginnen mit unserer vertrauten Sicht (dem Neocortex) und ergänzen das um Limbi und Gecko. Natürlich sind die Beispiele verkürzt und vereinfacht, sollen aber ein Gefühl dafür geben, wie das mit den Ebenen ist.

Beispiel 1: “Also ich bin ein ganz freundlicher Teamleiter! Alles ganz entspannt, nur wenn es wirklich nötig ist, haue ich mal auf den Tisch.”

Das ist die Selbstauskunft von einer Teamleitung. Was steckt dahinter? Was sehen wir auf welcher Schicht (Neocortex, Limbi, Gecko)?

Das ist jetzt nicht vollständig. In dem Satz (Weltbild) steckt noch mehr drin, aber das soll für die erste Runde reichen.

Wenn wir Gecko und Limbi auch ignorieren und unterdrücken, für unseren inneren Zustand gilt trotzdem: Gecko > Limbi >> Neocortex.

“Solange ihr macht, was ich möchte, ist alles gut. Blöd nur, dass ihr nie vorher wissen könnt, was ich wirklich möchte. Und ja, eure Meinung ist mir total egal. Denn ich habe recht und will nur euer Bestes. Also wenn ihr macht, was ich euch sage, wird es super.”

Beispiel 2: “Ich teile zwar nicht die Meinung von denen da oben, aber ich muss dir leider kündigen.”

Wir haben hier eine Teamleitung, die zwischen beiden Welten steht. Was ist in ihr los?

Auch da gilt wieder für den inneren Zustand aller Beteiligten: Gecko > Limbi >> Neocortex.
Das gilt auch für alle Beobachter. Also der Schaden, der im ganzen Team entsteht ist riesig und wird lange bleiben.
Bis so etwas repariert ist, kann es lange Zeit dauern. Es gilt das Verhältnis 1:5; ein negatives Erlebnis braucht 5 positive. Das bedeutet hier: Ich brauche 5 ähnliche (vergleichbare) Situationen, wo anders gehandelt wird, bis wir wieder bei null sind! Dann weitere 5, bis wir in den positiven Bereich kommen. Die Situation kann also 10-15 Jahre nachwirken. Nehmt das bitte in eure Kostenabschätzungen mit auf.

Es lohnt sicht, diese Situation nur aufgrund definierter Werte aufzulösen. Denn eine Kündigung ist nicht das Problem, solange sie auf den Werten und Purpose basiert.

Beispiel 3: Eine Millennial-Chefin versucht eine Gen Z Mitarbeiterin anzulernen. Macht Priorisierung und erklärt alles, aber nichts passiert. Auch nach 2 Runden nicht.

Hier müssen wir ein bisschen in beide reinschauen. Wir beginnen jetzt mit der Chefin und wechseln bei Bedarf.

In diesem Beispiel sind die “blinden” Ebenen am offensichtlichsten, weil beide in unterschiedlichen Welten sind. Trotzdem ist den Gen Z-lern auch nicht klar, was da genau passiert. Weder Limbi noch Gecko ist “entwickelt”. Sie sind nur nicht so sehr zerstört.

Und das ist ein ganz wichtiger Aspekt, gerade für den Limbi: So wie wir unser Denken trainieren, was sehr gut ist, so müssen wir unser emotionales und soziales Gehirn trainieren. Aber eben mit anderen Methoden. Das geht eben nicht über den Neocortex, sondern den Limbi müssen wir mit Limbi-Training erreichen.

Die Lösung ist hier übrigens noch naheliegender als in jeder anderen Situation: “Don’t manage people, manage purpose.”
In dem Moment, wo wir Richtung geben – also echte Führung leben – lösen sich diese Probleme von selbst. Wir klären nicht, was zu tun ist, sondern wie die Wirkung auf die Welt sein soll. Wir klären (vorher!), ob wir da dieselben Vorstellungen haben.
Der Rest ist dann persönliche Umsetzungs-Kompetenz und Verantwortung. Die kann und soll differieren. Je kompetenter unsere Leute sind, desto besser werden sie es tun. Viel besser als ich selbst. Unser Job ist nur, dass alles zusammenpasst. Und das machen wir über das System.

Beispiel 4: Neue Teamleitung kommt in ein Team und will den Überblick bekommen. Redet mit jeder Person im Team und bei fast jedem Thema kommt als Antwort auf “Wen kann ich da fragen?” ein Name: “Frag da am besten die Kerstin.”

Was passiert denn da in der neuen Teamleitung? Schauen wir mal rein.

Das ist ja auch das, was meistens passiert. Ob jetzt gemobbt, gekündigt oder anders verschoben, diese Menschen werden entfernt. Damit wird natürliche Führung (durch Hierarchie) automatisch aus den Organisationen vertrieben.

Beispiel 5: Kind wirft sich im Supermarkt auf den Boden und schreit. Oder morgens vor der Schule wird getrödelt und alles wird zu spät.

Ich würde gerne viel mehr Beispiele aus Beziehungen und Erziehung nehmen, aber das ist ja nicht ganz der Kern von OrgIQ. Dennoch auch hier nochmal der Hinweis, dass wir die Weltbilder der Erziehung so um eine Generation versetzt im Management wiederfinden. Beides ist verbunden. Wie wir erzogen wurden, wird unser Bild von “Führung” prägen. Daraus zu kommen ist möglich, aber großer Aufwand.

Wir schauen uns mal die Eltern an und auch ins Kind hinein.

Die Sicht das Kindes ist ganz anders. Bis sie zerbrechen sind Kinder 90% Limbi und nur 10% Neocortex. (siehe den Blog-Eintrag zur Entwicklung von Kindern) Also das Rationale ist einfach nicht so wichtig, sondern der innere emotionale Zustand. Und beim Kind wird es so sein, das ein Grundbedürfnis (Bindung, Selbstwert, Selbstbestimmung, Sicherheit) verletzt ist. Das spürt das Kind, kann es aber nicht in Worte fassen. Aber das Kind möchte gesehen, gehört, verstanden und berührt werden (also der Kern von Begegnung oder Verbundenheit). Und damit das geht, muss es seine Gefühle an dich übertragen: “Ich möchte, dass du fühlst, was ich fühle.” Die Handlung dient also nur dazu, dass du fühlen kannst, wie es sich gerade fühlt. Wir sind großartig darin, dass wir wissen, wie andere emotional auf unser Verhalten reagieren, und welche Gefühle wir dadurch in ihnen erzeugen.

Deswegen ist eine direkte rationale oder emotionale Reaktion nicht hilfreich. Wir müssen nur sehen, welches Gefühl in uns entstanden ist und sagen “ah, jetzt weiß ich, wie es dir geht”.

Beispiel 6: Geschäftsführer tickt aus und fängt an rumzuschreien und an die Wände von seinem Glas-Büro zu klopfen (zu hämmern).

Der Kontext dazu ist, dass es sich um eine offene Bürolandschaft handelt. Großraumbüro für die Mitarbeiter und Glaskästen für das Management. Mit der Idee: Bedeutung = Größe des Glaskastens.

Das Management hat aber den Einkauf genau neben den Glaskasten der Geschäftsführung platziert. Und die sind nun mal laut. Meetingräume oder andere Plätze zum Telefonieren gibt es nicht.

Schauen wir mal in ihn rein …

Die meisten im Management sind nicht über die emotionale Entwicklung von 5 Jahren hinausgekommen. Ab 7 sollte man die interne emotionale Regulierung im Griff haben.

Das bedeutet nicht, dass sie nicht wundervolle Menschen sind. Sie haben nur diese grundlegenden emotionalen und damit sozialen Skills nicht entwickelt.

Macht und Angst wird deswegen gerne als Ersatz für Annahme und Respekt genommen. Den Macht und Angst kann ich erzeugen und kontrollieren. An Annahme und Respekt glaube ich nicht, weil es nicht in meiner Kontrolle liegt; und weil ich es nicht erlebt habe und selbst nicht kann.

Hier wird er auf der einen Seite zur Witzfigur, weil es einfach so zu viel ist, aber gleichzeitig verbreitet er auch Angst. Und das ist das Beste, was er kennt.

Beispiel 7: Lebensfreude kommt in ein Team

Da muss ich ein klein wenig weiter ausholen. Wir reden über ein “Friedhofs-Team”. Alle sind leise, am Arbeiten und mit sich selbst beschäftigt. Weil das Thema “Legal” ist, wundert sich niemand. Wer will mit denen schon reden?

Dabei sind paar der Kolleg:inn:en eigentlich unterhaltsam, aber das wird nicht gelebt. Auch offizielle Bemühungen von der Teamleitung mit den Nachbar-Teams bei gemeinsamen Frühstücken in Kontakt zu kommen, scheitern.

Jetzt kommt jemand Neues ins Team und es ist wie ein Frühlingserwachen. Die Person selbst bringt Lebensfreude und Entspanntheit mit, aber steckt auch andere an. Plötzlich findet Interaktion mit den Nachbarteams statt und andere, die immer geschwiegen haben, erwachen zum Leben.

Also was passiert in der Teamleitung:

Ja, es ist ähnlich zu Beispiel 4. Führung kann sehr unterschiedlich aussehen. Und wir hatten hier eine Führung in Menschlichkeit und Lebendigkeit.

Die Situation wurde hier über eine Uminterpretation der zwischenmenschlichen Kontakte erledigt. “Schau mal, was du alles kaputt gemacht hast.” (Das jetzt komplett auszuführen, würde den Rahmen sprengen, aber bestimmt mal an anderer Stelle.) Das Team versank danach wieder in den Friedhofs-Modus. Die neue Person sollte sich einem “bewehrten Zombie” anpassen (“nimm dir ein Beispiel an xyz … wenn du so wärst, wäre alles gut geblieben”), hat aber ihre Lebendigkeit gegen Dysfunktionalität eingetauscht und vergiftet nun ihr Umfeld. Rache an allen, die lebendig sind.

Also das Muster wurde von der Teamleitung nach unten übertragen und dort auf eine eigene Art übernommen.

(Eine Vertiefung dazu hat einen eigenen Blog Eintrag bekommen.)

Beispiel 8: “Gen Z hat so hohe Erwartungen, aber leistet nichts.”

Ob das jetzt von HR oder vom Management kommt, ist egal. Schauen wir mal rein.

Und was ist da die Wahrheit: Ja, wir wurden alle betrogen und sind vielleicht auch ein bisschen dumm. Aber es ist wie der anekdotische Frosch mit dem Tauchsieder: aus dem heißen Wasser würde er direkt raushüpfen, aber bei der schleichenden Erwärmung verpasst er den Absprung.

Rory Sutherland hat kürzlich daran erinnert, dass wir in den 1960ern noch eine ganze Familie (mit Kindern, Haus, Auto, Fernseher, Waschmaschine, …) mit einem Gehalt finanzieren konnte. Ohne Schulden. Mit 40h Familien-Wochen-Arbeitszeit.

Heute sind wir bei 80+h und haben im Prinzip weniger. Und Schulden. Betrachten wir den technologischen Fortschritt und nehmen die 1960er als die Baseline, dann sollten wir heute bei maximal 30h Familien-Wochen-Arbeitszeit sein. Und das ging schleichend. Aber wir werden jede Woche um 50h betrogen und haben es nicht gemerkt.

Und was jetzt?

Üben, üben, üben. 😉

Das ist jetzt keine vollständige Anleitung, das ist mir klar. Aber es gibt euch ein Gefühl, was wir verpassen, wenn wir uns nur den Neocortex anschauen. Denn dann sehen wir die wirklichen Ursachen nie. Und damit reagieren wir auf etwas völlig Bedeutungsloses. Unsere Reaktion geht am Thema vorbei und erzeugt dann wieder eine Gegen-Reaktion, die auch daneben ist.

Es ist gar nicht wichtig, dass wir bei Limbi und Gecko richtig liegen, sondern dass wir mit der Zeit ein Gefühl entwickeln, was Gecko und Limbi (negativ/positiv) aktiviert. Und das ist gar nicht so kompliziert.

Denn es geht nicht darum, dass wir recht haben, sondern dass wir uns begegnen.

Comments

One response to “Die drei tiefen Wahrheiten”

  1. […] ein Beispiel zu Die drei tiefen Wahrheiten. Tatsächlich gibt es auch Berührpunkte zu 3-Level-Truth: Ein trauriges Team-Beispiel, aber die […]

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