“Sexuelle Belästigung ist ein Indikator für dysfunktionale Systeme”
Früher stand SB für Selbstbedienung, heute nehme ich es, um die Titelzeile zu entschärfen.
Ein Symptom, nicht Ursache
Sexuelle Belästigung ist ein schwieriges Thema, das gerne gemieden wird. Heute wie früher, wenn auch mit unterschiedlichen Strategien. Es ist ein Symptom von Machtstrukturen und wurde als einfache Opfer-Täter-Dynamik behandelt. Dann werden eine Zeit lang die Täter geschützt, dann wieder die Opfer, wieder die Täter und so weiter.
Dennoch ist es nur ein Symptom, ein Indikator, dass etwas ganz anderes kaputt ist. Und wie so oft begnügen wir uns mit Symptom-Behandlung. Weil wir ja keine Zeit haben, um an den Kern zu gehen.
Das ist wie diese ewige Geschichte mit der stumpfen Säge und der fehlenden Zeit sie zu schleifen. Und weil sie stumpf ist, sind wir so schrecklich langsam und haben keine Zeit.
Und so auch mit der sexuellen Belästigung. Wenn die sich meldet verfallen alle in Schockstarre, statt mal hinzuschauen. Also wie funktioniert das denn?
Dazu erst eine echte Geschichte und dann schauen wir uns Begriffe und Dynamiken an.
Eine Geschichte zum Thema
Es ist eine Geschichte, in der wir uns primär zwei Hauptpersonen anschauen: K und P. P ist schon ein wenig im Unternehmen tätig und K kommt neu. K leidet unter niedrigem Selbstwert, versteckt das aber unter der Rolle stark, klug und attraktiv zu sein.
In einer lockeren Runde begegnen sich P und K, wobei sich P von der Fassade nicht beeindrucken lässt, sondern mit einem Augenzwinkern den Kern prüft: “Bist du erwachsen, authentisch und liebst du dich?”
Schmerz
Die Antwort ist “Nein”, weil der Schmerz nur hinter einer Deko-Schicht versteckt wurde. Und natürlich wurde das jetzt nicht so plump gefragt, sondern es kam durch einen Witz, ein Wortspiel, ans Licht. Ein Witz, der unvollständig war und im Kopf vervollständigt werden musste und dabei alles offen ließ. Die Frage ist in diesen Momenten, wer für uns vervollständigt: der innere Kritiker oder der innere Coach? Da die meisten von uns keinen Coach haben, vervollständigen wir negativ. Und nur, weil wir das einsetzten, was wir wirklich tief drinnen über uns glauben. Und deswegen auch glauben, dass es alle anderen im Kopf haben, weswegen wir uns wieder so viel Mühe geben, das hinter der Deko-Schicht zu verstecken. Wir wollen nicht so wertlos gesehen werden, wie wir uns selbst sehen, weil dann will niemand mit uns zu tun haben und wir sind völlig abgelehnt.
Dieses Wortspiel hat also das Weltbild von K an die Oberfläche geholt. Und die ganze Begegnung dauerte vielleicht 5 Minuten. Völlig irrelevant. “Was lass ich mich von jemandem beeinflussen, der als Fremder um die Ecke kommt?” Und eine Verletzung entsteht hier, weil K meint, dass eine vermeintliche Wahrheit sichtbar wurde, die K mit aller Energie vor der Welt zu verstecken versucht. (In Umgebungen mit Offenheit, Verletzlichkeit und Authentizität ist eben genau das nötig; sich zu zeigen und sehen zu lassen.)
Zeit vergeht. 2 Jahre später erzählt K eine Variante der Geschichte in vertrauter Runde beim Mittagessen. “P ist ja ein furchtbarer Mensch! Wie kann man nur so sein?” Hier wird in der Erzählung schon ein wenig sexualisiert, wobei das bei der Begegnung keine Rolle spielte. Aber natürlich ist die Attraktivität (beziehungsweise die Präsentation davon) ein Teil der Fassade, Maske, Rolle, die eingerissen wurde. Wir bauen unsere Deko-Schicht mit dem was wir denken, was andere Menschen wichtig finden. Das Ziel ist wertvoll zu erscheinen und andere Menschen von unserem wirklichen Selbst (wie wir uns sehen) fernzuhalten. Also das eine ist das wirkliche “Ich” wie wir es sehen, das andere ist die “PowerPoint” von uns, die wir anderen zeigen. Da gibt es wenig Schnittmenge.

Und wenn K schlecht über P spricht, dann geht es um Bestrafung. Um den Limbi. “Ich möchte dem anderen den Wert nehmen, denn mir wurde (vermeintlich) mein Wert genommen.” (Weil hinter die Deko-Schicht geschaut wurde und über mich gelacht wurde – nicht von P aber anderen Anwesenden –, also soll P auch leiden und ich möchte den Wert wegnehmen.)
Interaktion kommt aus der Emotion
Der Wunsch dabei ist ein “Ich (K) möchte, dass du (P) so fühlst, wie ich mich gefühlt habe.” Oder “Ich möchte, dass du dich so fühlst, wie du gemacht hast, dass ich mich gefühlt habe.” Die Alternative wäre, dass wir Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen. Also Reife erlangt haben.
K hat sich klein, allein, abgelehnt, entblößt und “nicht genug” gefühlt. Nicht, weil das die Realität ist oder weil das in der Situation ausgesprochen wurde, sondern weil das eben in K drin steckt. Das ist das Selbst-Bild. Das ist, wie K sich selbst wirklich sieht, wenn wir unter die Deko-Schicht schauen.
Deswegen ist die Strategie einfach: Wenn K anderen erzählt, wie schrecklich P ist, dann werden die sich von P abwenden und P wird sich klein, allein, abgelehnt, entblößt und “nicht genug” fühlen.
Schmerz vs. Reparatur
Da es aber auch Vertrauen und Offenheit gibt, erzählen andere P von dem was K erzählt. Also kommt P auf K zu und sagt “Hey, ich habe gehört, dass dich die Begegnung immer noch mitnimmt und das tut mir voll leid, weil das war nicht meine Absicht. Wir können gerne drüber reden.”
Das macht es natürlich nicht besser, sondern noch schlimmer, weil K nicht die Gefühle in P erzeugen konnte, die erzeugt werden sollten. Noch schlimmer, die anderen haben sich P zugewandt, statt sich abzuwenden. Und in der Entschuldigung ist ja implizit der Aufruf zur Übernahme von Verantwortung drin. Also drei große Angriffe auf die Gefühlswelt von K.
Ohne den inneren Status zu kennen, macht jede Handlung – auch aus bester Absicht – alles nur schlimmer.
An dieser Stelle der obligatorische Hinweis, dass das alles unbewusst abläuft. Also unterhalb der Wahrnehmung macht das ein verletzter Limbi.
Escalation 1
Es vergehen wieder 2 Jahre. Und K hat eine Affaire mit F, wie das in Unternehmen so vorkommt. Und wie das Glück (von K) so will, gehört F plötzlich zum Management von P. Also F hat Macht über P. Das ist doch mal was! Jetzt hat K einen Menschen gefunden der zuhört und gerne unterstützt und mitmacht. Also wenn K jetzt F dazu bringt, dass P gefeuert wird, das wäre doch was. Dann würde sich P endlich klein, allein, abgelehnt, entblößt und “nicht genug” fühlen.
Wieder vergeht ein Jahr und K arbeitet im Hintergrund. Mit ein wenig Verrat wird eine Situation geschaffen, die es leichter macht P aus dem Team zu entfernen. Und am besten gleich auch aus dem Unternehmen. Da es aber keinen offiziellen Grund gibt, wird das ganze über einen schönen Aufhebungsvertrag geregelt und P hat weiter viele Kontakte und die Menschen lieben P immer noch. So ein Dreck! (Aus Sicht von K. Also der Plan ist auf ganzer Linie gescheitert. Alle wenden sich P zu, statt sich abzuwenden.)
Mit jedem Rückschlag werden die Gefühle von klein, allein, abgelehnt, entblößt und “nicht genug” in K schlimmer und tiefer.
Escalation 2
Wieder vergehen fast 2 Jahre. Was soll K tun? Der Ruf muss ruiniert werden. P muss verschwinden und alle Kontakte und Wertschätzung verlieren. Da kommen wir zur Wunderwaffe der sexuellen Belästigung.
Diese Geschichte schließt in vielen Köpfen auch die Lücke warum P gehen musste. Und da sind viele “Das hätte ich von P aber nicht gedacht” dabei. Es bleiben zwar auch Zweifel, aber auch der Zweifel an der Integrität von P wurde gesät und wächst. Im besten Fall gibt es ein “Hausverbot” und alle Kontakte sind weg. Denn dann endlich wird sich P auch klein, allein, abgelehnt, entblößt und “nicht genug” fühlen.
Dumm nur, dass P eben in einer anderen Welt lebt. Das Weltbild macht den Unterschied. Und auch wenn es großer innerer Schmerz in K ist und P das sehen kann, muss K Verantwortung übernehmen. Deswegen gibt es eine Anzeige, die natürlich nur einen kleinen Teil der hier beschriebenen Geschichte ans Licht bringt. (Die Geschichte im Limbi natürlich nicht wirklich, weil darüber niemand spricht. Aber ja, wir müssen Verantwortung für unser Handeln übernehmen. Auch wenn es aus dem Gefühl kommt. Weil wir auch für unsere Gefühle Verantwortung übernehmen müssen.)
Moral
Jetzt habe ich euch von Anfang an die Geschlechter der Personen vorenthalten. Vielleicht denkt ihr automatisch das P eine Frau und K ein Mann ist. Vielleicht sind es beides Frauen oder es ist alles umgekehrt.
Von den Daten her ist die Geschlechtsverteilung relativ klar, aber sie ist in der Geschichte völlig belanglos. Es geht nur darum, dass wir unterschiedlichen inneren Schmerz und unterschiedliche Weltbilder haben.
Jemand in Angst und Schmerz möchte sich hinter der Deko-Schicht verstecken. Jemand der in einer Welt voll Vertrauen, Freude und Möglichkeiten lebt, will hinter die Deko-Schicht schauen, weil dort der echte Mensch ist. Einfach nur aus Interesse und Neugier und weil da was Echtes ist. Da gibt es kein (Ver-)Urteilen. Das wird aber ein Mensch in der Welt von Schmerz und Angst nicht verstehen, weil es da nur um Bewertung und Verurteilung geht. Vor allem an sich selbst.
Disclaimer
Warum habe ich dieses (komplexe) Beispiel genommen, als einen einfachen Übergriff?
Weil es die Prinzipien besser darstellt.
Bei einem traditionellen Übergriff, sind wir sofort in der Opfer-Täter-Sicht. (Dazu noch mehr in der nächsten Box.) Es gibt aber immer einen Kontext. Und dieser Kontext wird bei Opfer-Täter-Sicht nicht gebraucht. Wir lösen eine systemische Dynamik in eine lineare Abhängigkeit. Das ist leicht, aber auch so vereinfacht, dass wir das Wesentliche nicht sehen. Denn es geht um Macht. Und Macht kommt aus der Angst und Unsicherheit. Wie beim Mobbing.
Wenn ich Macht demonstrieren will, dann hat das etwas mit mir und meinem inneren Zustand zu tun. Und in der Regel gibt es eine gegenseitige Dynamik. Es gibt keinen Übergriff oder Angriff, wenn ich ihn nicht erlaube. Das hat jetzt nichts mit Täter-Opfer-Umkehr zu tun, sondern damit, dass wir eine andere Perspektive auf ein System mit einer Geschichte haben. Denn es geht nicht um Schuld, sondern darum, wie wir das System reparieren können, damit diese Dinge nicht mehr vorkommen.
Tatsächliche Grenzverletzungen haben wir selten. Es gibt natürlich, im Krieg und bei extremer Gewalt, auch die Situation, dass Menschen wirklich an der Wahrung ihrer Grenzen gehindert werden, aber das ist in 0,1% der Fälle von denen wir hier sprechen der Fall.
Wenn wir übergriffiges Verhalten erleben, dann kommt die Handlung aus dem Wunsch nach Macht. Und der Wunsch nach Macht, kommt aus dem Defizit. Das Defizit ist das “ich bin nicht genug”, ich werde nicht gesehen, ich bin allein. Und der Mensch, über den ich Macht ausüben möchte, hat von allem mehr als ich, deswegen möchte ich diesen Menschen klein machen.
Das haben wir in allen Fällen. Es ist eine Dynamik zwischen verschiedenen Seiten. Der “Täter” ist dann nur die Person die am schwächsten im System ist.
Dieser Gedanke ist wichtig: In Systemen, die angstfrei sind, wird sich keine Gewalt entwickeln. Angst und Gewalt gehören zusammen. Und Gewalt hat auch viele Facetten. Als Profis müsst ihr die erkennen können, sonst entgehen euch wichtige Informationen über den inneren Zustand eines Systems.
Gewalt und Sexismus
Unser Bild auf Gewalt ist sexistisch. Letztlich basiert es auf einer sehr physischen Sicht. Und daher kommt die Annahme, dass Frauen “harmlos” sind, also keinen Schaden (“Harm”) anrichten. Daraus folgt die einfache Verteilung der Rollen: Männer sind Täter, Frauen Opfer.
Das macht Frauen natürlich erstmal klein und hilflos, was wieder zur Biologie (Beschützerinstinkt) passt, aber noch schneller in Fremdbestimmung führt.
Und es ist nicht wahr: Nur weil Frauen seltener physischen Schaden anrichten, ist die Gewalt und Gewaltbereitschaft nicht anders. Im Alltag sogar oft höher, weil eben die Auswirkungen vermeintlich harmlos sind, und nicht reguliert oder sanktioniert werden. Frauen dürfen schlagen und sich sonst verhalten wie sie möchten, dennoch gilt die Erwartung, dass sie selbst unantastbar sind. (Posts in Social Media sind ein schönes Beispiel, wie normalisiert gewalttätige Reaktionen von Frauen sind. Niemand reagiert darauf oder ist “getriggert”, was zeigt, wie normal es im täglichen Erleben ist.)Doch beziehen wir die unsichtbare (also emotionale oder psychische) Gewalt ein, ist es ausgeglichen. Und das ist ganz wichtig zu verstehen, weil wir es zu gerne übersehen: Die Gewalt zwischen den Geschlechtern ist ausgeglichen. Jede Frau, die Männer verletzt, wurde im gleichen Maße von Männern verletzt. Und jeder Mann, der Frauen verletzt, wurde im gleichen Maße von Frauen verletzt. Wir haben da eine ungute Spirale der gegenseitigen Verletzung. Und jeder Mensch ist anfangs mal Opfer (Kind/Jugendliche:r), aber dann wird er Teil des Systems und spielt mit.
Für die Ermittlung und Bewertung von Gewalt auch noch wichtig: Es gibt zwei Richtungen von Gewalt. Nehmen wir das Beispiel vom Essen: Ich kann jemanden mästen (also zum Essen zwingen) oder eben verhungern lassen. Was schlimmer ist, kann jeder für sich bewerten. Das eine ist aktiv, das andere ein “ich mach doch gar nichts”. Schwer zu sehen oder zu erfassen, aber von der Konsequenz sogar schlimmer. Also Gewalt hat viele, auch subtile, Gesichter.
Das ist ein Problem in allen Statistiken, dass wir eben emotionale Verletzungen nicht erfassen (können). Das wir die passive Gewalt nicht sehen und messen können. UNd das ist der eigentliche Kern: Welche Verletzung entsteht in uns? Denn auch bei der physischen Gewalt gilt, dass der eigentliche Übergriff die emotionale Verletzung ist.
Gerade beim Missbrauch von Kindern sind wir blind: Wenn Männer ihre Töchter als Partnerersatz benutzen, dann sprechen wir von sexuellem Missbrauch und ächten das. Wenn Mütter ihre Söhne als Partnerersatz benutzen, dann ist der Schaden derselbe, wird aber öffentlich gelebt. Und dabei auch überwiegend gelobt, belohnt und honoriert.
Stellen wir uns das mal umgekehrt vor: Was würde das mit den Vätern und den Töchtern machen, wenn es komplett legitimiert und honoriert würde? Das hätte spannende Auswirkungen, denn die Handlung an sich wird dadurch nicht besser. Aber es reduziert das Stigma und die Opfer-Dynamik. Aber die fortwährende Invalidierung der eigenen Wahrnehmung der Kinder bleibt.Generell ist Gewalt und Missbrauch nicht die Handlung an sich, sondern eben, dass wir nicht bestimmen können. Es ist die Verletzung unseres Grundbedürfnisses nach Selbstbestimmung oder Gestaltung. Wenn wir gezwungen werden etwas zu tun, was wir sonst gerne tun, dann wird es “Missbrauch”. Wenn es durch Menschen kommt, denen wir eigentlich vertrauen sollten, dann wird das Grundbedürfnis nach Bindung oder Verbundenheit zusätzlich verletzt. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist, wenn ich ständig die Missbrauchsbrille aufhabe, dann sehe ich Missbrauch überall, was mich zum fortwährenden Opfer und hilflos macht.
Die Wahrheit liegt also dazwischen. Wir sollten eine gesunde Robustheit (Resilienz) mitbringen, aber auch einen klaren Blick dafür haben, wenn Grenzen wirklich eingerissen werden. Und da brauchen wir dann auch Werkzeuge, um unsere Grenzen zu schützen.
Lektionen
Emotionale Reife
In reifen Organisationen, mit Menschen mit hoher emotionaler Reife, kommt sowas nicht vor. Ich spreche vorher drüber und ich brauche Macht nicht mehr als Ventil.
Vor allem übernehme ich Verantwortung für meine Gefühle.
(siehe OrgIQ_DSS-CheatSheet_Release_DE)
Angst und der Fight-Mode
Sehen wir Macht und Dominanz, also auch einen Angriff auf jemand anderen, dann ist das ein deutlicher Indikator für den “Fight”-Modus. Also Gecko hat die Kontrolle und wir sind in der Angst. Wir fühlen uns die ganze Zeit angegriffen und leben in einer gefährlichen und feindlichen Welt.
Opfer sind eher in Flight- und Freeze-Modus. (siehe OrgIQ_GeckoCheatSheet_Release_DE)
Die Menschen mit einer stabilen Reife sind gar nicht in der Angst, bis es einen echten Grund dazu gibt. Das ist dann aber eher der Säbelzahntiger, als ein bisschen emotionaler Knatsch, oder das jemand meine Unzulänglichkeiten sehen kann. Denn mit einer gewissen Reife, bin ich entspannt verletzlich.
Sexualisierung
Das ist heikel und wird gemieden. Also müssen wir da ein wenig tiefer einsteigen. Sexualisierung ist das Gegenteil von Sexualität. Und damit wir das nicht noch mit Sex verwechseln, was Menschen in der Sexualisierung normalerweise tun, sprechen wir hier von Körperlichkeit.
Sexualisierung ist also die Abspaltung meiner körperlichen Identität. Entweder wird meine körperliche Identität unsichtbar; dieser Teil von mir wird einfach ignoriert. Oder ich werde darauf reduziert.
Beispiel Essen: Entweder ich werde gemästet oder ich muss hungern. Beides ist problematisch, weil die gesunde Entwicklung dort liegt, wo ich selbst bestimmt entscheiden kann. Es ist nicht das was ich tue, sondern warum ich es tue (siehe Ratten-Studie).
In der Realität erleben wir oft beides gleichzeitig, nur in unterschiedlichen Kontexten.
Mädchen sind da am intensivsten betroffen: Die weibliche Sexualität wird auch heute noch als “unangemessen” betrachtet. Wir leben immer noch in einer Zeit der “emotionalen Genitalverstümmelung”. Jeder hat eine Meinung dazu, wie und wann die weibliche Sexualität in Erscheinung treten darf, was mit einer fortwährenden Invalidierung der eigenen Gefühle (von Mädchen) einhergeht. Das wird, ähnlich wie die Beschneidung, sogar vorwiegend von Frauen gemacht.
Natürlich erleben Jungen das auch, aber bei Mädchen kommen einige spannende biologische Faktoren dazu, die wir uns an anderer Stelle anschauen können. (Da geht es vor allem um die unterschiedlichen Lebenszyklen und das Fitting in.)Wenn ein Mensch keine vollständige Identität haben darf – ein wichtiger Teil darf nicht sein, der ist also “schlecht” und schlecht bedeutet für m/f unterschiedliches, hat aber denselben inneren Effekt –, kann dieser Mensch nie gesehen, gehört, verstanden und berührt werden. Ich (als Ganzes) bin eben nicht da.
Daraus kommen die Gefühl der Ablehnung, ignoriert zu werden, nicht gut genug zu sein. Daraus kommen Handlungen “ich möchte, dass du fühlst, wie ich mich fühle”. Das erzeugt mehr Hunger und Defizit. Eine Abwärtsspirale.
Das bedeutet auch, dass ich alles Körperliche als Ressource und Transaktion sehe. “Ich möchte den besten Preis, für das was ich gebe.” Es gilt das Minimalprinzip. Ich lebe Verknappung um interessant und gefragt zu bleiben. Der Markt ist Angebot und Nachfrage und “gewinnen” tun die, die das beste Angebot haben und ihre Nachfrage zügeln können.
Aus biologischer Sicht sind Frauen über 25 da im Vorteil, weswegen die auch so gegen die jüngeren sind, die den “Markt kaputt machen”. Es geht um Macht und Kontrolle. Und darum, dass ich eine gute Position habe.
Der Kern ist also Kompensation. Das kann jede Form der externen emotionalen Regulierung sein. Wir können es in eine ganz andere Richtung tragen, aber eben gerade auch Pornografie ist ein guter Indikator für die Knappheit/Scarcity/Defizit. (siehe OrgIQ_DSS-CheatSheet_Release_DE)
Die Sexualisierung kommt aus der Trennung: ich mäste dich oder lasse dich verhungern. Und das sind auch die Mechanismen der Belästigung. (Wir sehen leicht, dass es mit echter Sexualität keine Belästigung gibt. Ich handle nicht aus dem Hunger und nehme auch nicht so wahr.)
Wenn wir über (empfundene) Belästigung reden, dann ist es vor allem Macht und Kontrolle. Die Belästigung zwingt mich dem anderen auf. “Du musst mich sehen, ob du willst oder nicht”, “ich will nicht mehr unsichtbar sein”, “ich möchte, dass es aufhört, ich möchte sichtbar sein”, “wenn du mich anschaust, wird alles gut”. Aber eben auch Macht, Fremdbestimmung, Rache “du hast mich ignoriert, dass ist mein größter Schmerz, also füge ich dir deinen größten Schmerz zu”. Also zum Beispiel du nimmst (enthälst mir vor) mir meinen Selbstwert, deswegen nehme ich dir deine Sicherheit.
Ich will dir nehmen, was du aus meiner Sicht hast, aber ich haben möchte. Wie ich das dann mache, ist völlig egal. Deswegen gehen unsere bisherigen Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung, wie auch gegen Mobbing, am eigentlichen Punkt vorbei.Menschen im Hunger werden alles tun, um den Hunger zu stillen oder nicht mehr zu fühlen. Da gibt es keine Vernunft, sondern nur überleben. Deswegen müssen wir Hunger erkennen und die Menschen “füttern”. Niemand wird von einem “du darfst nicht hungrig sein” satt. Das ist wieder eine Invalidierung und macht es schlimmer. Der Weg zur Heilung (satt werden), ist den Hunger zu erkennen und benennen.
Stellen wir uns ein Kind vor, dass von den Eltern ignoriert wird, also es fühlt sich unsichtbar. Es wird immer lauter und lauter werden und schreien, sich auf den Boden werfen, Dinge zerstören, … alles um nur gesehen zu werden. Unsichtbar sein, ist die größte und schlimmste Form der Ablehnung. Das betrifft vor allem Männer. 80% der Männer sind im Alltag unsichtbar und sie leiden darunter, genau wie das Kind. Resultiert daraus ein Übergriff, egal in welcher Form (heißt ob sozial geächtet oder sozial legitimiert), dann geht es um “ich möchte gesehen werden”. Ich möchte wertvoll sein.
Setzten wir empfunden Belästigung als Druckmittel ein, soll sie zur sozialen Ausgrenzung des Täters führen. Also wieder in die Unsichtbarkeit, eben weil das die größte Verletzung ist. Das betrifft vor allem Frauen, wenn sie nur in der Sexualisierung gesehen werden, dann fühlen sie sich als Mensch unsichtbar. Deswegen gilt auch hier “ich möchte, dass du fühlst, was ich fühle”.
Und da haben wir leider ein Thema, wo sich die Geschlechter aus ihrer (sexualisierten) Erfahrung gar nicht verstehen. Männer können den Schmerz von Frauen überhaupt nicht nachfühlen. Und umgekehrt genauso. Beide Seiten sehen sich als das ultimative Opfer.
Dazu wieder Essen als Beispiel: Wenn ich immer nur Pommes essen muss, dann habe ich irgendwann keine Lust mehr auf Pommes und hasse Pommes.
Wenn ich aber hungere und gar nichts zu essen bekomme, dann denke ich “Pommes sind das Beste was es gibt”. Das ist auch die Logik hinter den Dick-Pics: “Mir reicht es völlig, wenn ich dafür [Pommes] gesehen werde. 1000x besser als nichts.”
In Organisationen
Also was tun wir als Organisation, wenn das Thema “sexuelle Belästigung” aufkommt?
Klar, hinschauen. Tief und genau hinschauen. Und ja, es geht weniger um die konkrete Situation, sondern dass wir die Situation als Indikator sehen, dass im ganzen System was nicht stimmt. (Ich weiß, genau das wollen wir nicht sehen, deswegen ist ja die Opfer-Täter-Geschichte so angenehm.)
Wie bei einem Schimmelpilz: Wenn wir die erste Spore sehen, dann ist das nicht das Problem, sondern nur die Warnlampe, dass alles schon mit dem Myzel durchzogen ist.
Das Modell der einfachen Opfer-Täter-Dynamik macht die Analyse schnell, bleibt aber an der Oberfläche und macht den Verständnisraum minimal klein und damit auch den Lösungsraum winzig. Es bleibt bei der Symptombehandlung.
Konkretes Vorgehen: Zuerst natürlich beide Seiten hören, aber nicht bei der Handlung bleiben, sondern sich den Kontext und die Ursachen anschauen. Es geht mehr darum zu verstehen, warum gerade die beiden (oder mehr) so darauf reagieren, also warum sind die mein Lackmus-Test für die Dysfunktion im System?
Da wir eine Situation im Defizit haben, gibt es kein Vertrauen und damit kann ich niemandem wirklich glauben. Deswegen geht es darum, wer in welchem Weltbild ist. Das kann man ruhig mal auf Herz und Nieren prüfen.
Lebe ich in einer freundlich wahrgenommenen Welt oder lebe ich in einer feindlich/gefährlich wahrgenommen Welt? Diese Information brauche ich von allen beteiligten Parteien. Denn die Frage ist ja nicht, ob gegenseitige Verletzung stattgefunden hat, das steht außer Frage, sondern wie wir das System reparieren, dass unsere Leute aus dem Defizit kommen. Also wie schaffen wir Vertrauen, Versöhnung, Heilung? Wir wollen den inneren Zustand des Systems erkennen. Wo wird Angst und Gewalt erzeugt und belohnt?
Letztlich geht es darum, dass wir unter die Deko-Schicht schauen und ein bisschen vom Schmerz aufrollen. Da werden die sehr unterschiedlich mitmachen. Deswegen gehen wir über das System und schauen dort nach Indikatoren: Wo findet Verletzung statt? Wo werden destruktive Verhaltensweisen belohnt? Wo haben wir Sexualisierung? Wie kann gesunde Begegnung stattfinden? Warum haben wir tiefe innere Verletzungen (wie in der Geschichte oben bei K) nicht vorher gesehen ?
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